November 2022

Mittwoch, 30. November

Es war einmal ein frommer Mann, der wollte schon in diesem Leben in den Himmel kommen.
Darum bemühte er sich ständig in den Werken der Frömmigkeit und Selbstverleugnung. So stieg
er auf der Stufenleiter der Vollkommenheit immer höher empor, bis er eines Tages mit seinem
Haupte in den Himmel ragte. Aber er war sehr enttäuscht: Der Himmel war dunkel, leer und kalt.
Denn Gott lag auf Erden in einer Krippe.

Martin Luther

                                                                                                                                          Felix Breitling


Montag, 28. November

St.Leonhard, Höhenkirchen-Siegertsbrunn
Bildrechte Mathias Brandstätter

Nun ist schon Advent und es beginnt wieder die Zeit des Wartens und des Erwartens. Beides erfordert Geduld.
Dazu passt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke über die Geduld:

Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von Innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann, alles ist austragen - und dann gebären…

Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.

Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor Ihnen läge, so sorglos, still und weit…

Man muss Geduld haben.
Mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.

Mathias Brandstätter


Freitag, 25. November

Das Wunder der Ankunft,
was immer sie ist.

Das Wunder des Abschieds,
was immer er war.

Das Wunder des Daseins
zwischen diesen großen Wundern.

David Weiss (us-amerikanischer Schriftsteller, 1929-2002)

Verena Übler


Mittwoch, 23. November

Zwischenzeit

Im Religionsunterricht ging es heute ums Kirchenjahr.
"Mit dem Ewigkeitssonntag hört das Kirchenjahr auf und am 1. Sonntag im Advent fängt das neue Kirchenjahr an", habe ich erklärt.
„Und was ist dann mit der Zeit dazwischen?“ fragte eine Schülerin. Ich fand das eine tolle Frage.
Für mich ist wichtig, dass diese Woche zwischen Ewigkeitssonntag und 1. Advent eine Zwischenzeit ist. Eine Zeit zwischen den Jahren. Nicht gleich Christkindlmarkt am Montag nach dem Ewigkeitssonntag, sondern wirklich: Zwischenzeit. Das eine ist zu Ende, das andere hat noch nicht begonnen.
Es gibt sie auch im Leben, dei Zwischenzeiten: Der Job ist gekündigt, die neue Stelle hat noch nicht begonnen. Die Ferien zwischen zwei Schuljahren. Die frühere Wohnung ist leergeräumt, die neue noch nicht bezogen.
Manchmal ist das „Dazwischen“ gar nicht so angenehm, weil es nicht eindeutig ist, weil es nicht gleich weitergeht, weil wir es als Stillstand empfinden.
Ich glaube, wir Menschen brauchen solche Zwischenzeiten. Sie helfen uns, dass wir nicht gleich vom Einen ins Andere wechseln. Dass wir über das Vergangene nachdenken und uns auf das Neue vorbereiten. Dass wir nicht einfach immer funktionieren und weitermachen.

Felix Breitling


Montag, 21. November

Nur ein Ahornblatt

Ahornblatt
Bildrechte M.Brandstätter

Am dritten Schöpfungstag, so um die Mittagsstunde, nahm sich Gott das Ahornblatt vor. „Und den Ahornmehltau machen wir gleich mit“, sagte er, „dann ist der schon mal aufgeräumt. Ihr werdet euch schon miteinander arrangieren, ihr beide.“

Dann wandte er sich ganz dem Ahornblatt zu. „Du hältst dich bitte an den Zeitplan, dann kann nichts schiefgehen. Lass der Blüte den Vortritt, damit die Biene sie anfliegen kann. Ich plane da eine Zusammenarbeit. Danach bist du dran: Entfalte dich!

Mit dem Grün halte dich anfangs zurück, - im Frühling ist noch Frost vorgesehen. Ich denke, du nimmst Gelb und Rot für die erste Zeit, - und im Herbst brauchen wir das jedenfalls wieder! – Dass ich’s nicht vergesse!“ sagte er leise und machte unter dem Stichwort ‚Menschenauge’ einen dicken Strich.

„Dein Zuckerlabor“, fuhr er fort, „ist übrigens erstklassig ausgestattet und funktioniert einwandfrei. Ich rechne dann aber auch mit einer gewissen Großzügigkeit deinerseits, wenn Gäste kommen.
Apropos: Wir müssen daran denken, dass wir noch die Ahorn-Springlaus, Ahorn-Borstenlaus, Gallmücke und Blattlaus-Schlupfwespe machen wollen.

Du weißt: Mein Konzept steht und fällt mit der Kooperation.
Und da“ – Gott seufzte – „wird’s beim Menschen manchmal hapern. Du wirst sehen: Er ist oft ziemlich kurzsichtig, dickschädelig und lernfaul. Wie lange es wohl dauern wird, bis er begreift, dass ihr euch gegenseitig braucht? Dass er deine Luft schlürfen muss und du die seine saugen willst?

„Dein Design, weißt du“, kam er wieder zur Sache, „liegt mir schon sehr am Herzen.
Auf jeden Fall brauchst du einen langen beweglichen Stiel, damit du dich dem Sturm anschmiegen kannst. – Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass du Musik machen wirst? Ja – im Sturm wirst du rauschen, im Wind rascheln und flüstern. Aber sei mir dezent! Ich will nicht, dass du den Gesang der Vögel übertönst.“

"Und da fällt mir ein: Vor dem Abschiednehmen, wenn der Winter kommt, hast du doch keine Angst? Ich sage dir: Du wirst es erst spüren, wenn du schwebst. Du wirst dem Igel das Bett sein und dem Ahornkeimling die Kinderstube. Und danach? Danach habe ich große Überraschungen mit dir vor – du wirst dich nicht wiedererkennen.“

Noch einmal schwieg Gott eine Weile. „Es ist nun gut“, sagte er. Und nach einer weiteren Weile: „Mach’s gut!“ Und er blickte dem Ahornblatt zärtlich nach.
(frei nach Mechthild Foerster, 1997)

Mathias Brandstätter


Freitag, 18. November

 

Fundstück

Beim Suchen nach etwas habe ich zufällig dieses Gedicht gefunden. Eine alte Dame aus meiner ehemaligen Gemeinde, Ruth Ruff, hat es 1979 geschrieben und mir einmal -  handschriftlich – geschickt.

Herbst und Hoffnung

In Nebelwolken eingehüllt liegt nun das Tal
wie Tränen tropft es von den Bäumen überall,
der Baum, der Busch, der Silberbach, sie träumen leise,
erzählen flüsternd von der warmen Sommerreise, -
die nun vorbei – vorbei – ergraut ist alles Licht,
doch weiß mein Herz: erloschen ist die Sonne nicht,
sie hat im Wolkenschleier ihre Bahn verhüllt –
das Sommersehnen, ist es nicht schon längst erfüllt?
Sei still, mein Wunsch, der Herbst bringt auch noch hellen Schein
lass dieser Regentage Zeit Dir Raum zur Einkehr sein;
denn unter jedem Blatt, das leis zur Erde schwebt,
schwillt schon die Knospe, die dem neuen Jahr entgegenlebt.
Die Ackererde, von der Ernte nun befreit,
liegt wartend, offen da, zur neuen Saat bereit:
drum weine nicht, wenn Wasser aus den Wolken fällt,
denn Gott allein weiß um den großen Durst der Welt!
[Ruth Ruff, 1979]

Verena Übler


Mittwoch, 16. November

Buß- und Bettag

Zu sagen, die Welt ist so, wie sie ist – wir können sowieso nichts ändern, ich glaube, damit machen wir es uns zu einfach.
Ich glaube, wir können Kreisläufe unterbrechen und aus ihnen aussteigen.
Ich glaube, wir können aus unseren Mustern ausbrechen, umkehren, neu anfangen.
Und oft haben wir mehr Möglichkeiten als wir denken.

Der Theologe Helmut Gollwitzer hat am Schluss seines Buches „Krummes Holz – aufrechter Gang“ geschrieben:
„Nichts ist gleichgültig. Ich bin nicht gleichgültig.
Alles, was wir tun, hat unendliche Perspektive, - Folgen bis in die Ewigkeit; es hört nichts auf.
Es bleibt nichts vergessen. Es kommt alles noch einmal zur Sprache.
Wir kommen aus Licht und gehen ins Licht.
Wir sind geliebter, als wir wissen.
Wir werden an unvernünftig hohen Maßstäben gemessen.
Wir sind auf einen Lauf nach vorne mitgenommen, der uns den Atem verschlägt; Sünde heißt: Nicht mitkommen. Bitte um Vergebung heißt: deswegen nicht abgehängt werden.
Es geht nichts verloren.
Die Philosophen sprechen von der Suche nach Gott; aber das ist, wie wenn man von einer Suche der Maus nach der Katze spräche.
Wir sind auf der Flucht vor Gott – und es wird uns auf die Dauer nicht gelingen. Es wird uns zu unserem Glück nicht gelingen.
Wir sind nicht allein.
Wir sind nie allein.
Das Leben ist ungeheuer wichtig.
Die Welt ist herrlich – die Welt ist schrecklich.
Es kann mir nichts geschehen – ich bin in größter Gefahr.
Es lohnt sich zu leben.“

Felix Breitling


Freitag, 11. November

 

Der Zufall

Der Zufall ist das, was einem im Leben zu-fällt. So Marion Gräfin Dönhoff in einem Interview mit ihrem Großneffen Friedrich Dönhoff:

„… ich habe noch nie irgendetwas geplant, sondern immer auf den Zufall gewartet. Dann habe ich ihn gepackt und versucht, etwas Vernünftiges daraus zu machen. Viele Menschen meinen, man könne alles planen, aber das ist eben ein Irrtum. Wenn man Vertrauen in den Zufall hat und sich gewiss ist, dass es eine höhere Macht gibt, die das Leben ordnet – dann braucht man sich auch nicht so furchtbar aufzuregen. Der Zufall ist die Antithese der Planung. Es ist eine große Stütze, wenn man dieses Grundvertrauen in ihn hat und sich nicht intellektuell zu etwas überreden muss, sondern mit dem Herzen dabei ist.“

Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht Gott: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. (Jeremia 29,11)

[Interview in der Die Zeit ca. 2002]

Verena Übler


Mittwoch, 9. November

9. November 1848: Der Demokrat Robert Blum wird in Wien von den Truppen der Gegenrevolution erschossen.

9. November 1918: Philipp Scheidemann ruft die erste Deutsche Republik aus.

9. November 1923: Hitler unternimmt vor der Münchner Feldherrnhalle einen Putschversuch

9. November 1938: Tag der Novemberpogrome

9. November 1989: Tag des Mauerfalls

Ein Gedenk- und Gedächtnistag. Ein vielschichtiger, ambivalenter Tag.

Im Vordergrund des Gedenkens stehen für mich der 9. November 1938 und die Erinnerung an die Shoah. 

Und ich denke auch daran: Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie ist immer auch gefährdet. Es lohnt sich, sich für sie zu engagieren. Geschichte kommt nicht einfach auf uns zu. Geschichte ist menschengemacht. Wir alle tragen Verantwortung.

Felix Breitling


Montag, 7. November

Wohlstand

Am Samstag nahm ich an einem ökumenischen Treffen von Umweltengagierten aus evangelischen Kirchengemeinden und katholischen Pfarreien in Bayern teil. In der Diskussion ging es irgendwann auch um den Wohlstand, der in unserer Gesellschaft zweifellos vorhanden ist, aber durch viele aktuellen Entwicklungen bedroht wird. Zumindest liest und hört man es immer öfters.

Ein Teilnehmer überlegte, warum sich "Wohlstand" immer nur auf den materiellen Wohlstand bezieht und warum wir nicht einen Zeit-Wohlstand anstreben? 
Also genügend Zeit zu haben, um in unserem Leben weniger unter Zeitdruck oder -Stress leiden zu müssen.

Und vielleicht sollten wir besser einen Glücks-Wohlstand als Ziel haben?

Ja, es könnte noch viel mehr Arten von Wohlstand auf der Welt geben, z.B.:
- Bildung
- Gesundheit
- Freiheit
- Gerechtigkeit
- Frieden
- ...

Welche Wohlstandsarten fallen Ihnen noch ein?

Mathias Brandstätter


Freitag, 4. November

 

zeug das Kind
pflanz den Baum
bau das Haus
zerbrich das Gewehr
und
sag es weiter

Ein Gedicht von Zvanko Plepelic´, deutscher Schriftsteller, kroatischer Herkunft. Eine „Poesie des Friedens“ hat Friedrich Schorlemmer, Pfarrer und Bürgerrechtler, es in seiner Dankesrede für den Erhalt des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1993 genannt.
Hilft das was, eine Poesie des Friedens? Wohlfeile Worte angesichts von erbarmungsloser Gewalt im Krieg?
Ja, sage ich, denn es erinnert uns daran, dass wir uns nicht verhärten lassen dürfen. Die Bilder setzen auf Zukunft und auf Leben. Davon lasst uns weitererzählen, denn das macht Mut und gibt Hoffnung. So wie die Weissagung des Propheten Micha (4, 1-4): „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden fortan nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen und niemand wird sie schrecken.“ Eine Utopie? Eine Hoffnung!
Sagen wir es weiter!

P.S. Am Sonntag beginnt die diesjährige Friedensdekade unter dem Motto: ZUSAMMEN:HALT
Wir feiern dazu am Buß- und Bettag, 16.11. in der Offenbarungskirche um 19 Uhr einen ökumenischen Gottesdienst. Herzliche Einladung!

Verena Übler


Mittwoch, 2. November

Wir sind nicht hierhergekommen,
um einander gefangen zu nehmen,
sondern, um uns noch tiefer
der Freiheit und der Freude zu ergeben.

Wir sind nicht in diese wunderbare Welt gekommen,
um uns fern der Liebe als Geiseln zu halten.
Lauf, mein Liebstes, lauf allen davon,
die spitze Messer in deine zarten Träume,
in dein edles, heiliges Herz stoßen wollen.

Uns ist es aufegeben, uns mit den Stimmen
der inneren Berufung zu befreunden, die da
draußen vor dem Haus unserem Geist zurufen:
"Ach bitte, bitte komm heraus und spiel mit uns!"

Denn wir sind nicht hierhergekommen,
um einander gefangen zu nehmen
oder unsere wunderbaren Seelen einzuschließen,
sondern, um immer tiefer zu erleben,
was ins uns göttlich ist:
Mut, Freiheit, Licht!

Shams-Ud-Din Muhammad Hafiz zugeschrieben, persischer Dichter
aus dem 14. Jahrhundert

Felix Breitling